Einige, die länger im Ausland leben, haben sicher irgendwann einmal zumindest vorübergehend das Gefühl, dass ihre Wahlheimat ihrer ursprünglichen Heimat total unterlegen sei und eigentlich sofort verlassen werden müsse. Ich bezweifle zumindest, dass nur ich manchmal darunter zu leiden habe.

Der Kamakura-Budda ist enttäuscht.
Ich hatte letzten Monat so eine Phase, was meinen Mann fast in den Wahnsinn getrieben hat. Letztendlich war natürlich nicht Japan über Nacht zu einem schlechteren Ort geworden, sondern ich hatte meine Probleme (gesundheitlich und arbeitstechnisch) ganz einfach auf Japan an sich abgerollt. Das nennt sich auf Japanisch 現実逃避 (Genjitsu Tōhi) und auf Deutsch Realititätsflucht.
Tatsächlich ist es viel einfacher durch den Tag zu kommen, wenn man all seine Probleme jemandem anders anhängen kann, und wenn es ein Land ist. An dem, was eigentlich den Stress auslöst, kann man oft nichts ändern, aber immerhin kann man damit flirten einfach die sieben Sachen zu packen und zurück nach Deutschland zu ziehen. Nicht, dass das irgendwie realistisch wäre oder irgendetwas besser machen würde, aber die Vorstellung ist einfach so verdammt attraktiv.

Fast so attraktiv wie Shirakawa-gō. 😉
Glücklicherweise löst sich diese Stressschraube meist auch irgendwann wieder, und erlaubt einem rational nachzudenken und Japan vielleicht sogar wieder ein wenig gut zu finden. Meine Kritikpunkte zu Japan bleiben natürlich trotzdem bestehen, aber es gibt eben kein perfektes Land. Nicht einmal Finnland ist perfekt!
Für viele systematische Probleme haben wir für uns Lösungen gefunden, vor allem was die Arbeit anbelangt. Wir werden so schnell nicht an Überarbeitung sterben. In meiner Firma bekomme ich, sofern es dann mit der Festanstellung klappt*, Krankheitstage und kann pro Woche zwei Tage von zuhause aus arbeiten. Mein Mann kommt eigentlich jeden Tag vor mir nach Hause. Uns geht es gut.
* Drückt mir die Daumen!
Generell hilft es, unser Leben mal ein wenig objektiv zu betrachten. Wir wohnen in unserem eigenen Haus, wir verstehen uns super mit den Eltern meines Mannes, wir arbeiten beide Vollzeit, was es uns erlaubt mehrmals im Jahr durch die Weltgeschichte zu reisen, und wir sind noch viel verliebter als am ersten Tag. 🙂 Ob es uns in Deutschland ähnlich ergangen wäre? Vielleicht, vielleicht auch nicht, aber jetzt ist es zu spät, um das herauszufinden. Mir bleibt, wenn mich alles nach unten drücken will, nach oben zu schauen und einmal darüber nachzudenken, wie viel Glück ich hatte und auch weiterhin habe.

Links von mir: Mein größtes Glück. ❤️
Ich sollte nur wirklich öfter nach Deutschland fliegen, nicht nur um ein wenig mehr Zeit mit meiner Familie zu verbringen, sondern auch, damit den Luftschlössern in meinem Kopf die Realität entgegengesetzt wird. Aber vorher geht es erst einmal nach Miyako (宮古島), das hilft auch ganz hervorragend dabei in Erfahrung zu bringen, warum Japan durchaus auch toll sein kann. 😉