Gegenseitige Rücksichtnahme wird in Japan groß geschrieben. Das merkt man besonders beim Bahnfahren. Man stellt sich nämlich an den Markierungen, an denen die Türen sich befinden werden, an. So hat man eine schöne Reihe, und keiner versucht sich offensichtlich vorzudrängeln. In der Bahn selbst wird man angehalten, sein Handy auf Vibrationsalarm zu stellen (マナーモード; Manieren-Modus) und nicht zu telefonieren. Außerdem gibt es Sondersitze für ältere Herrschaften, Schwangere und körperlich eingeschränkte.
Es herrscht keine Atmosphäre, in der man großen Lärm verursachen will. Das ist eine Art unsichtbare Vereinbarung, die man eingeht sobald man einsteigt. Als ich im März in Berlin in der Bahn saß, fühlte ich mich oft unwohl. Leute reden laut, telefonieren und machen generell Lärm, der nach einem Jahr in Japan unglaublich bedrohlich wirkt. Gesprochen wird in Japan nur in normaler Lautstärke und (meist) nicht über fünf Sitze hinweg, und Musik, die aus Ohrhörern dringt, erklingt auch selten. Das ist sehr entspannt und lädt zum Schlafen ein. Doch!
Die unsichtbare Vereinbarung gilt offensichtlich nicht für die älteren Herrschaften oder Kinder. Beinahe immer, wenn ein Handy laut klingelt, tut es das meist in den tiefen einer Tasche an der Hand eines älteren Herrn oder einer älteren Dame. Diese müssen erst mitbekommen, dass das ihr Handy ist, dann herausfinden, wo es sich befindet, um dann den Anruf anzunehmen – meist mit einem kurzen „Ich kann grad nicht, ich sitze in der Bahn“. Na das hat es mir gebracht. Neben älteren Frauen in einem Café zu sitzen ist auch schrecklich, denn sie sind laut. Schrecklich laut. Aber zurück zu Bahnen.
Heute hatte ich ein kleines Mädchen mit seiner Mutter in meiner Bahn. Ich sehe auf Arbeit genug verzogene Kröten, auf dem Heimweg versuche ich ihnen aus dem Weg zu gehen. Sie stiegen leider nach mir ein und es gab keine anderen Sitzplätze mehr. Auf jeden Fall fing die Tochter an auf dem iPhone mit Hilfe ihrer Mutter irgendein Spiel zu spielen. Mit Ton. Nervig, aber ich hätte dabei noch schlafen können. Schlaf war offensichtlich auch das Ziel der Krötenmutter, denn plötzlich erklangen mysteriöse Stimmen, und das Kind sah sich in einer vollbesetzten Bahn ohne Kopfhörer in relativ großer Lautstärke einen Anime an. Die Mutter schlief. Währenddessen streckte das Kind sich auf dem Sitz hin und her, den neben ihr sitzenden Mitreisenden vollkommen ignorierend, streckte ihre Füße gegen eine Metalstange und erfreute sich seines Lebens. Das ist mir tatsächlich das erste Mal, seit ich nach Japan gezogen bin, passiert. Anime auf voller Lautstärke im Zug.
Das Problem der Japaner ist, dass sie nichts sagen. Sie gucken nur und sind genervt. Es gibt es den Ausdruck 空気を読む (Kûki wo yomu; wörtl. „die Luft lesen“), was die Fähigkeit, die Atmosphäre oder Stimmung zu fühlen, beschreibt. Statt Dinge direkt gesagt zu bekommen, wird oft erwartet, dass man sie irgendwie „spürt“. Als wäre man mit einer Frau zusammen 😉 Es wäre unhöflich jemandem direkt zu sagen, dass er etwas nicht tun sollte, deswegen produziert man eine eisige Stimmung, und erwartet, dass das Gegenüber es bemerkt. Wenn jemand so etwas nicht mitbekommt, ist er KY, abgeleitet von 空気読めない (Kûki yomenai; „die Luft nicht lesen können“). Die Mutter war eindeutig KY. Ich sage dann meist auch nichts, obwohl ich so gern würde. Ich hatte auch die perfekte Chance, denn Krötenmutter und Kröte stiegen an meiner Station aus. Natürlich nicht ohne dass mir das Kind auf die Füße trat. Gesagt habe ich trotzdem nichts, was natürlich vollkommen falsch war, aber ich kann mir immerhin sagen, dass ich das Kind zumindest streng angesehen habe. Lies die Luft, Kind!